Vorschläge der SSK zur Weiterentwicklung von ICRP 103
Stellungnahme der Strahlenschutzkommission
Verabschiedet in der 326. Sitzung der Strahlenschutzkommission am 08. Mai 2023
Bekanntmachung im BAnz AT 01.02.2024 B9
Information
Überarbeitung des internationalen Strahlenschutzsystems durch die internationale Strahlenschutzkommission (ICRP) – Die SSK beteiligt sich an der Debatte
Warum ist das Thema wichtig?
Das deutsche Strahlenschutzrecht stützt sich auf Grundsatzempfehlungen der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP). Diese wurden zuletzt im Jahr 2007 als Publikation 103 der ICRP veröffentlicht. Um das Strahlenschutzsystem zu überprüfen, zu aktualisieren und ggf. zu überarbeiten, startete
die ICRP im Jahr 2021 eine weltweit geführte Debatte. Erfahrungen und Erkenntnisse, die seit 2007 gesammelt wurden, können so eingebracht und berücksichtigt werden.
Welche Fragen werden behandelt?
- Die SSK gibt Hinweise und Vorschläge zu Themen, die aus Sicht der SSK bei einer Überarbeitung der ICRP-Grundsatzempfehlungen berücksichtigt werden sollten.
Was sind die Kernaussagen der SSK zu diesem Thema?
Ausgewählte Kernaussagen der SSK sind
- Modelle im Strahlenschutz – Bewährtes bewahren, Obsoletes anpassen oder abschaffen: Das derzeitige Strahlenschutzsystem beruht an vielen Stellen auf der Annahme eines linearen Dosis-Wirkungszusammenhang ohne Schwellendosis (LNT). Zwar gibt es Erkenntnisse über biologische Effekte, die einen nichtlinearen Dosis-Wirkungszusammenhang nahelegen. Für Zwecke des Strahlenschutzes hält die SSK das LNT-Konzept jedoch nach wie vor für sinnvoll, gerechtfertigt und geeignet. Der Dosis- und Dosisleistungs-Effektivitätsfaktors (DDREF) sollte an aktuelle Erkenntnisse angepasst und gegebenenfalls abgeschafft werden.
- Detriment:
Das Detriment-Konzept ist ein geeignetes Mittel zur Schadensgewichtung, aber schwer nachvollziehbar. Ob die Wahl der Parameter und ihrer Werte zur Berechnung des Detriments angemessen ist, sollte überprüft werden. Für die Zwecke des Strahlenschutzes könnte aber ein einfaches und leichter verständliches Modell ebenso geeignet sein. - Strahlungs-Wichtungsfaktoren:
Die Strahlungs-Wichtungsfaktoren sollten aufgrund von Hinweisen aus Studien zur relativen biologischen Wirksamkeit überprüft werden. - Rechtfertigung:
Neue Empfehlungen sollten unter den Gesichtspunkten der Durchführbarkeit und der Auswirkungen in der Praxis kritisch hinterfragt werden. Dazu gehört die Fragestellung der Rechtfertigung. Nicht nur Tätigkeiten müssen gerechtfertigt sein. Auch Schutzmaßnahmen sind auf ihre Rechtfertigung zu prüfen, da sie sowohl gewünschte als auch unerwünschte Auswirkungen haben können. - Unsicherheiten:
Unsicherheiten und ihre Quellen im Strahlenschutz sollten benannt und beachtet werden.
Abstract
Das gegenwärtig international praktizierte Strahlenschutzsystem stützt sich auf die als Publikation 103 der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP) veröffentlichte Grundsatzempfehlung aus dem Jahr 2007. Seit einigen Jahren ist es erklärte Absicht der ICRP, die Diskussion zu Strahlenschutzproblemen aus dem inneren Zirkel der Mitglieder der Main Commission und ihrer vier Committees zu öffnen und der weltweiten Strahlenschutz-Fachwelt mehr Gelegenheit zu geben, sich daran zu beteiligen. Unter dem Titel "The Future of Radiological Protection" fand Ende 2021 ein viel beachteter Workshop der ICRP statt, der als Startpunkt für eine breit angelegte und weltweit geführte Debatte zur zukünftigen Ausgestaltung des Strahlenschutzsystems aufgefasst werden kann.
Das Bundesumweltministerium hat die SSK gebeten, sich an dieser Debatte zu beteiligen und zu prüfen, inwiefern die von der ICRP zur Überarbeitung vorgesehenen Themen und Aspekte vollständig sind. Erforderlichenfalls sollten ergänzende Vorschläge gemacht werden, wie die bislang vorgesehenen relevanten Themen und Aspekte nachvollziehbar begründet, priorisiert und wodurch sie aus Sicht der SSK ggf. zu ergänzen wären.
Die Kernaussagen der resultierenden Stellungnahme der SSK sind:
Zu den Themenfeldern, die sowohl vor als auch nach der ICRP-Publikation 103 nahezu permanent in der internationalen Fachwelt, teilweise sehr kontrovers diskutiert wurden und werden, gehört die Grundannahme, dass die Dosis-Risikobeziehung für stochastische Wirkungen durch einen linearen Zusammenhang ohne Schwellendosis angepasst werden kann (LNT-Modell). Das LNT-Modell für den Strahlenschutz ist eine der wichtigsten Annahmen, auf die sich große Teile des gesamten Strahlenschutzes stützen. Eng mit dem Grundprinzip des LNT verknüpft sind weitere Annahmen, Modelle und Parameter, die konzeptionell in den Strahlenschutz eingebunden sind. Dazu gehört vor allem das Konzept des Dosis- und Dosisleistungs-Effektivitätsfaktors (DDREF), des Detriments und des Strahlungs- und Gewebe-Wichtungsfaktors.
Übergeordnet zu diesen Konzepten sind stets Überlegungen, die insbesondere auch die Praktikabilität, Transparenz, Individualisierung, Resilienz und Akzeptanz von Strahlenschutzstrukturen betreffen. Es muss eine angemessene Balance hergestellt werden zwischen Konservativität und Realismus, zwischen Kontinuität und Bedarf an Anpassung an neue Erkenntnisse oder Anforderungen und zwischen zahlreichen weiteren Zielkonflikten.
Ebenso sollte die Betrachtung der Unsicherheiten und ihrer Quellen im Strahlenschutz eine größere Beachtung finden.